Das Werk der Strugatzkis lässt sich einerseits anhand der Weltenwürfe, der Sujets und der Spielarten des Phantastischen unterteilen, andererseits nach den literarischen Themen, Formen und Motiven; beide Gliederungen überschneiden sich. Im Sinne der ersteren Unterteilung fügt sich ungefähr das halbe Œuvre in einen durchgehenden Weltentwurf ein, eine Art Future History, in deren Zentrum eine prosperierende, utopische und (zunächst sensu stricto, dann immer stärker nur noch nominell) kommunistische Zukunft steht, wobei Raumfahrt und/oder außerirdische Zivilisationen zumeist die Sujets prägen.
Mit Ausnahme weniger Erzählungen (darunter das 1958 erschienene SF-Debüt »Aus anderen Sphären«, später mit zwei anderen Kurzgeschichten zur Novelle kombiniert) durchweg in diesen Weltentwurf gehören die frühesten SF-Werke der Strugatzkis: der Roman Atomvulkan Golkonda (1959, im Original eigentlich »Das Land der Purpurwolken«), die längere Erzählung »Der Weg zur Amalthea« (1960) und der Roman Praktikanten (1962). Sie handeln von interplanetarer Raumfahrt innerhalb unseres Sonnensystems um das Jahr 2000 und bilden eine Trilogie mit einem im Kern festen Ensemble von Hauptpersonen um den Raumfahrer Alexej Bykow. Der erste Roman − über eine Landung auf der lebensfeindlichen Venus − ordnete sich mit seinem Pathos von heroischer Pflichterfüllung und Selbstaufopferung im Namen der Wissenschaft in die damalige sowjetische Abenteuer-SF ein, stach allerdings bereits durch die unkonventionell realistische Charakterzeichnung hervor (sogar noch, nachdem diese vom Verlag geglättet und geschönt worden war). Praktikanten führt anhand einer Inspektionsreise durchs Sonnensystem verschiedene Lebensziele vor, von der Hingabe an schöpferische Arbeit und Forschung über östlich-intrigantes Macht- bis zu westlich-kleinbürgerlichem Gewinnstreben um jeden Preis, erteilt jedoch der Selbstaufopferung eine erste Absage und führt einen der Helden, den Bordingenieur Shilin, zur Erkenntnis, dass der Kampf um die Seelen der Menschen auf der Erde entschieden werden muss.
Diesen Gedanken verfolgten die Strugatzkis im Roman Die gierigen Dinge des Jahrhunderts (1965) weiter, der quasi einen Nachsatz zur Bykow-Trilogie und einen Seitenzweig des Zukunftszyklus bildet. Er spielt in einem fiktiven südeuropäischen Land, wo materieller Überfluss und ein ausgeprägter Liberalismus mit einem Verlust an geistigen Werten und Interessen sowie mit moralischem Verfall einhergehen. Shilin ist dort als UNO-Kundschafter im Einsatz, um dem Ursprung einer geheimnisvollen Droge namens »Sleg« nachzuforschen, die ein ungeheures Suchtpotenzial hat, sich jedoch als Kombination von überall leicht zu beschaffenden Komponenten erweist. Sowohl sowjetische als auch westliche Kritiker haben die ungenaue Zielrichtung des Romans bemängelt − den einen war jenes »Land der Dummköpfe« nicht westlich, den anderen nicht sowjetisch genug. Es handelt sich jedoch nicht um eine Satire, sondern − zumindest in der damaligen Intention der Autoren − um eine Dystopie, die ihre geistige Verwandtschaft mit westlichen Dystopien wie Huxleys Schöne neue Welt oder Bradburys Fahrenheit 451 nicht leugnen kann. (Es ist allerdings bemerkenswert, dass Boris Strugatzki seit den neunziger Jahren wiederholt geäußert hat, solch eine Gesellschaft, die eine schöpferische Persönlichkeitsentwicklung bei der Masse in keiner Weise fördere, aber immerhin Einzelnen ermögliche, erscheine ihm mittlerweile als das Beste, worauf die Menschheit realistischerweise noch hoffen dürfe.)
Zusammen mit einigen wenigen Kurzgeschichten bilden die Bykow-Trilogie und Die gierigen Dinge des Jahrhunderts die erste Zeitebene des Strugatzki'schen Zukunftsentwurfs; als Bezeichnung für diesen Abschnitt findet man in der Sekundärliteratur gelegentlich »Der Nahe Weltraum«, womit die Planeten und Monde des Sonnensystems gemeint sind, auf denen die meisten dieser Werke spielen. Bemerkenswert ist, dass der rege bemannte interplanetare Raumschiffverkehr zur Erforschung und Erschließung des »Nahen Weltraums« heute nicht weniger phantastisch und zukünftig wirkt als vor einem halben Jahrhundert, als diese Texte entstanden; nur bei der Datierung auf die Jahrtausendwende waren die Strugazkis viel zu optimistisch.
© 2010 by Erik Simon
[ Strugatzki-Werkführer ]
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