Nach dem Tode seines Bruders hat Boris Strugatzki zwei Romane geschrieben und unter dem Pseudonym »S. Witizki« veröffentlicht, das jedoch nicht die Identität des Autors verbergen, sondern ebenso wie »S. Jaroslawzew« betonen soll, das die Strugatzkis mit ihrem gemeinsamen Werk eine untrennbare Einheit waren. Die Suche nach der Vorherbestimmung oder Der siebenundzwanzigste Lehrsatz der Ethik (1995) ist ein umfangreicher Roman mit autobiographischen Elementen, dessen Handlung von 1970 bis 2001 reicht, aber mit langen Rückblenden auch Kindheit und Jugend des 1933 geborenen Haupthelden Stas Krasnogorow erfasst. Dieser ist an die zwei Dutzend Mal auf ganz unwahrscheinliche Weise dem scheinbar sicheren Tode entgangen, so als Kind im belagerten Leningrad, bei der Bewerbung zum Studium (wo ihn eine Ablehnung vor dem damals in der UdSSR tödlichen Beruf des Kernphysikers bewahrte) und als Student bei Ferienjobs in Mittelasien, und er fragt sich, zu welchem Zweck ihn das Schicksal wohl aufspart. Erst gegen Mitte des Romans wird das tragende phantastische Element des Romans offenbar: dass mehrere Menschen, die Krasnogorow hätten gefährden können, auf unerklärliche Weise an Explosionen im Hirn gestorben sind. Krasnogorows Versuch einer Karriere als ehrlicher, weil vom Schicksal geschützter und daher nicht erpressbarer Politiker endet mit seinem Tode, nachdem er zwar nicht die Wirkungsweise, wohl aber den Zweck seiner geschützten Existenz erkannt hat. Der letzte Teil, der ihn als erfolgreichen Politiker zeigt, spielte aus der Sicht des Erscheinungsjahres in der nahen Zukunft und enthält neben Prognosen zur Entwicklung Russlands auch SF-Motive; am stärksten ist der Roman aber gerade in den realistischen Passagen über die Belagerung Leningrads und über die bleierne Zeit der Breschnew-Ära.
Kompakter und auch phantastischer ist Die Ohnmächtigen (2003). Abgesehen vom ersten Kapitel und einigen Rückblenden spielt die Handlung binnen einer Woche im Sankt Petersburg der Gegenwart. Es geht darin um Leute, von denen jeder eine andere übernatürliche Gabe besitzt − einer hat ein absolutes Gedächtnis, einer kann die Psyche von Menschen manipulieren, einer gebietet über Insekten, usw. Als einer von ihnen von einer Mafia erpresst wird, damit er seine Gabe − in einem Maße, wie er über sie gar nicht verfügt − für deren politische Zwecke einsetze, finden sich die seit langem in kleinkarierte Alltagsroutine abgeglittenen Wundertäter wieder zusammen, um ihn unter Einsatz ihrer speziellen Talente zu verteidigen. Der eigentliche Held des Romans jedoch ist ihr Meister (»Sensei«), der diese Gaben in ihnen geweckt hat und der seinerzeit als Objekt von Menschenversuchen in der Stalinzeit unsterblich oder zumindest sehr langlebig geworden ist. Er kämpft − immer verzweifelter, immer chancenloser − vor allem gegen den inneren Schweinehund nicht nur im Menschen, sondern in der ganzen Gesellschaft, die längst jede Vision einer wahrhaft humanistischen Fortentwicklung aufgegeben hat - und gegen den ebenfalls langlebigen Leiter jener Menschenversuche von einst, der danach strebt, die Menschheit durch Blut und Terror aus ihrer Lethargie zu reißen.
© 2010 by Erik Simon
Strugatzki-Werkführer
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