Neverwake

 

Eichborn Verlag | 2001

 

»Der Berliner Autor Tobias O. Meißner verfolgt eine verwirrende Publikationsstrategie. Im Herbst 2000 veröffentlichte er mit seinem Roman Todestag ein Werk, dessen Programm die Repolitisierung des Erzählens war und den Lesern vom Verlag als Renaissance der engagierten Literatur angeboten wurde. Pünktlich zum mythischen Kubrick-Jahr 2001 erscheint nun mit dem Roman Neverwake eine Genre-Phantasie über digitale, eskapistische Jugendkulturen, die spielerisch den Cyberspace kartographiert. In Todestag wird ein fiktives Attentat auf den Bundeskanzler verhandelt. In Neverwake lassen minderjährige Helden die Schutzschilde feindlicher Raumschiffe unter dem Dauerfeuer ihrer Laserkanonen zerschmelzen und ziehen in wendigen Raumgleitern elegante Bahnen durch simulierte Welten. Meißner tritt durch den Flachbildschirm ins Wunderland. Nach Littérature engagée nun also Cyberpunk. Ein solch gegensätzliches Programm ist zumindest ungelesen in der jüngeren deutschen Literatur.

Amerikanischer Cyberpunk kombiniert High-Tech-Welten mit archaischen Mythen und Verhaltensmustern. Im digitalen Universum der Gründungsväter William Gibson oder Neal Stephenson herrscht düster schwelende Endzeitstimmung. Die sieben Reiter der Apokalypse galoppieren triumphierend durchs High-Speed-Modem. Meissner bespielt die Klaviatur dieses Genres ebenso gekonnt wie seine daddelsüchtigen Protagonisten ihre Spielkonsolen. Die Helden? Nun, ›Slamdiver, Oversurf-Kids, Pseudo-Cyborgs mit Metallimplantaten‹. Mit Simulationsbrillen auf der nervös bebenden Nase klinken sich die Datencowboys in ihre künstlichen Paradiese ein und tragen dort megalomane Duelle gegen ihresgleichen oder Titanen ›mit Brustwarzenringen in der Grössenordnung von Türklopfern‹ aus. Zur Finanzierung der laufenden Lebenskosten dealen sie mit ›strengstgeheimen Cheat-Codes‹, die einen Spieler problemlos in den nächsten Level befördern. Hacker, Cracker, Phreaker. Ihr Sprachmodus ist der Superlativ.

Meißner scheint diese digitalen Welten so intensiv absorbiert zu haben, dass sie sogar schon Spuren in seinem Namenszug hinterlassen haben. Das zentrale ›O.‹ ruht zwischen seinem Vor- und seinem Nachnamen wie ein Symbol für einen offenen Schaltkreis. Als hätte im ›große(n) kosmische(n) Wechselspiel von Nullen und Einsen‹ ein Null-Meteor in des Autors Taufscheinakte eingeschlagen. Meißner selbst versteckt sich im Text hinter dem raunenden Anagramm EIN ROBOT.MESSIAS.

Schon in seinem mutig-anarchischen Débutroman Starfish Rules hat Meißner souverän die Versatzstücke populärer Kulturen miteinander kurzgeschlossen. Neverwake erfreut nun mit einer harmonischen Entsprechung von Form und Inhalt. Betrachtet man Videospiele als ausgeklügelte Rührmaschinen, die unterschiedlichste Versatzstücke populärer Mythen und Dekors zu einem eklektischen Abenteuer vermengen, finden sie in Meißners spielerisch montiertem Text ein angemessenes Pendant. Neverwake ist der Roman zur Konsole. [...]

Behende springt Meissner von einem Stil-Level zum anderen: Homerische Space-Odysseen und Schlachten im interstellaren Freizeitpark folgen den amerikanisch-lässigen Dialogen der Konsolen-Kids, die wiederum detailverliebte Echtzeitreportagen über die Abenteuer aus dem Innern der Maschinen unterbrechen. Mit akribischer Sammelwut hat der Autor alle Begriffe aus dem Entertainment-Marketing und dem Techno-Vokabular der Spielentwickler zusammengetragen und in seinen Text eingeflochten, den er zusätzlich noch mit amüsanten Wortschöpfungen anreichert. Streckenweise infiziert feinstes Denglish Meissners Text wie ein gefährlicher Trojaner-Virus. So entsteht ein barock überladenes Flickwerk, das die überfrachtete Füllhorn-Ästhetik der digitalen Spielkulturen widerspiegelt. [...]

Der klassische Cyberpunk ist ursprünglich von ähnlichem Geiste des zivilen Widerstandes beseelt wie die Littérature engagée. Der integre Chaos-Hacker ist der Street-Fighting-Man von heute. Diese rebellische Seite vermisst man etwas in Meißners Text, der sich mit einem virtuosen Spiel in den Codes der Matrix begnügt. Tobias O. Meißner ist sichtlich von digitalem Camp und Pulp fasziniert und scheint kein Interesse daran zu haben, die eskapistische Matrix zu hacken. Dann schon eher den Bundeskanzler.« [Stephan Maus, Neue Zürcher Zeitung]