Das Spätwerk der Strugatzkis setzt mit Veröffentlichungen im zeitlichen Vorfeld von Perestroika und Glasnost ein, nachdem sich die in den siebziger Jahren prekäre politische Situation der Autoren seit Beginn der achtziger etwas stabilisiert hatte. Es besteht aus den letzten gemeinsamen Arbeiten, zwei gemeinsam konzipierten, aber von Arkadi allein niedergeschriebenen Erzählungen und zwei nach dem Tode des Bruders von Boris völlig allein verfassten Romanen. Trotz der wechselnden Autorschaft ist es thematisch und stilistisch recht homogen; charakteristisch ist der weitgehende Verzicht auf SF-hafte »Erklärung« der phantastischen Vorgänge bei weiterer Verwendung von einzelnen SF-Motiven und -Kunstgriffen.
Das lahme Schicksal erschien 1986 als eigenständige phantastische Novelle in einer Leningrader Literaturzeitschrift. In allen späteren Ausgaben ist sie (leicht abgewandelt) die Rahmenhandlung eines gleichnamigen Romans, der als Binnenhandlung Die hässlichen Schwäne enthält. Nachdem ihm ein früher Band mit originellen phantastischen Erzählungen nichts als Anfeindungen einbrachte, hat sich der Moskauer Schriftsteller Sorokin angepasst und schreibt patriotische Erzählungen über den Zweiten Weltkrieg, heimlich aber an einem ambitionierten Roman, den er geheimzuhalten gedenkt. (In der Zeitschriftenfassung war das die Stadt der Verdammten, später dann ist es die Binnenhandlung.) Aus diesem Dasein reißt ihn eine Folge äußerst merkwürdiger Ereignisse, für die sich phantastische Erklärungen aufdrängen, die sich aber teils als simple Zufälle erweisen, teils als Folgen der allerdings durchaus phantastischen Zustände in der realen UdSSR. Als SF-Element Bestand hat ein Computerprogramm, welches das Schicksal von literarischen Manuskripten vorhersagt, nämlich die Gesamtzahl der Leser, die das Werk jemals haben wird. Nachdem Sorokin probeweise sein geheimes Manuskript testen lässt und einen halbwegs respektablen Erfolg prognostiziert bekommt, ringt er sich durch, für die Veröffentlichung zu kämpfen. - Eins der phantastischen Motive, das die Autoren im Lahmen Schicksal wieder zurücknehmen, hatten sie in »Fünf Löffel Elixier« (1985) bereits ausgearbeitet: In dieser Erzählung geht es um ein in einer Höhle auf natürliche Weise anfallendes Unsterblichkeitselixier, das aber nur für fünf Menschen ausreicht.
Die Last des Bösen (1989) ist abermals ein Roman, der in alternierenden Kapiteln zwei separate Handlungen vereint. Eine davon wird als Tagebuch des Lehrers Nossow präsentiert, der in einer nicht näher bestimmten nahen Zukunft an einer Eliteschule in einer russischen Provinzstadt unterrichtet. Vor der Stadt hat sich eine hippieähnliche Jugendszene angesiedelt, deren alternativen Lebensstil der Lehrer zwar nicht billigt, die er aber dennoch unter Einsatz seines Lebens gegen einen Pogrom der Stadtbevölkerung zu verteidigen sucht. Wesentlich phantastischer und vielfältiger ist das zeitlich davor liegende zweite Manuskript, welches schildert, wie ein gottähnlicher »Demiurg« mit seinem Gehilfen Ahasver Lukitsch in dieselbe Stadt kam, um dort nach einem »Heiler« für die Gebrechen der Welt zu suchen, den er schließlich in Nossow findet. Auf der Suche erfüllt er auf wunderbare Weise die Wünsche diverser Gerechtigkeitsapostel, was deren Beschränktheit offenbart. Dieser Handlungsstrang lehnt sich unverhohlen an Bulgakows Meister und Margarita an und wird dem Vorbild durchaus gerecht; überaus originell sind auch verschiedene als Rückblenden erzählte Binnenhandlungen, etwa aus dem Leben von Ahasver Lukitsch, der sich als der Evangelist Johannes erweist, von einem Rivalen Mohammeds oder von einer Umdeutung der Rolle des Judas Ischariot.
Zur letzten gemeinsamen Schaffensphase der Strugatzkis gehört auch, dass sie sich gelegentlich wieder kürzeren Formen zuwandten, nachdem sie nach 1963 das Schreiben von Kurzgeschichten aufgegeben hatten. Kürzere Werke sind u.a. die schon erwähnten »Fünf Löffel Elixier« sowie zwei von Arkadi allein niedergeschriebene und unter dem Pseudonym »S. Jaroslawzew« veröffentlichte Erzählungen. In der kürzeren der beiden, »Aus dem Leben des Nikita Woronzow« (1984), durchlebt ein Mann einen mehrjährigen Abschnitt seines Lebens unter geringfügig variierenden Umgebungsbedingungen immer wieder von vorn, wobei er sich an sein Vorleben erinnert, aber nicht aus dem ewigen Kreis ausbrechen kann. Die existenzialistische, desillusionierte Sicht auf ein Leben des Einzelnen in einer kaum veränderbaren Welt tritt noch stärker in der Hundertfünfzig-Seiten-Novelle »Ein Teufel unter den Menschen« (postum 1993) hervor. Der Held ist darin imstande, durch bloße Willensanstrengung andere zu töten, allerdings muss er wütend auf sie sein. Die Novelle bietet als SF-ähnliche Erklärung an, er habe diese Fähigkeit erworben, nachdem er als Mitglied der Rettungsmannschaften in Tschernobyl verstrahlt wurde; die ausführlichen Rückblenden auf sein früheres Leben wie auch auf die Gegenwart in seiner Heimatstadt, wo er und seine Familie von Funktionären schikaniert werden, legen indes eher die Deutung nahe, dass ihn sein ganzes Leben in der Sowjetunion zu dem Menschenfeind gemacht, der er nun ist, zumal er wegen im Grunde harmloser dissidentischer Aktivitäten jahrelang im Konzentrationslager saß.
© 2010 by Erik Simon
Strugatzki-Werkführer
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