Im Œuvre der Strugatzkis gibt es eine Anzahl von Romanen, die von den Sujets her weder mit dem Zukunftszyklus noch miteinander zusammenhängen, aber dennoch eine deutlich zu fassende Gruppe bilden: Sie sind in der quasi »klassischen« Phase der Strugatzkis entstanden, also Mitte der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre, sie verwenden typische SF-Motive und folgen zumindest im Kern den Genrekonventionen der Science Fiction, und sie alle behandeln aus verschiedenen Blickwinkeln die Konfrontation des Menschen mit dem unabänderlichen Fortschritt oder einer anderen schicksalhaften Höheren Gewalt (ein Thema, das im Zukunftszyklus ebenfalls präsent war, aber erst mit Ein Käfer im Ameisenhaufen in den Mittelpunkt rückte). In der Reihenfolge der Entstehung sind das die Romane Die Schnecke am Hang, Die hässlichen Schwäne, Picknick am Wegesrand, Das Experiment (auch: Stadt der Verdammten) und Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang. Die Publikationsgeschichte ist verwickelter, da die Strugatzkis gerade zu jener Zeit massive Schwierigkeiten mit den diversen Zensurinstanzen bekamen: Die beiden Hälften der Schnecke am Hang wurden separat in verschiedenen Jahren an unterschiedlichen Orten vorabgedruckt, Die hässlichen Schwäne im Emigranten-Verlag Posev in Frankfurt am Main verlegt, Stadt der Verdammten schrieben die Strugatzkis gleich für die Schublade; Buchausgaben aller drei Romane erschienen russisch in der UdSSR erst mit den Lockerungen der achtziger Jahre.
Die Schnecke am Hang (1966/68) besteht aus zwei nahezu völlig voneinander getrennten Handlungssträngen in alternierenden Kapiteln. Auf einem fremden, mit Urwald bedeckten Planeten haben Menschen auf einem Hochplateau eine Station errichtet, die der Erforschung und »Verwaltung« des Waldes dienen soll. In den Wald-Kapiteln versucht Kandid, ein im Wald verunglückter Mensch, in die Station zurückzukehren; ebenso vergeblich trachtet der Held des anderen Stranges, Pfeffer, gegen bürokratische Hindernisse aus der Verwaltung in den Wald zu gelangen. Kandid hat Aufnahme bei rückständigen Dörflern gefunden, die im langsamen Aussterben begriffen sind, zwischen ständig wachsenden Sümpfen eingezwängt, im Zustand dumpfer Antriebslosigkeit befangen und bedrängt von einer biotechnisch höher entwickelten Zivilisation von Amazonen, die sich parthogenetisch fortpflanzen und Männer als niedere, zum Aussterben bestimmte Tiere betrachten. Kandid ergreift Partei gegen diese Amazonengesellschaft, die sich als der objektive Fortschritt präsentiert. − Sind die Wald-Kapitel SF sensu stricto, so ist der Verwaltungs-Strang − der den schon erwähnten SF-Text »Unruhe« ersetzte − eine groteske Satire mit SF-Elementen und zeigt eine kafkaeske Welt, eine absolute Bürokratie, wo der Wahnsinn Methode hat und beispielsweise eine Horde Leute mit verbundenen Augen eine entlaufene Maschine mit künstlicher Intelligenz sucht, weil jeder, der die streng geheime Maschine sieht, bestraft wird. Während die Waldkapitel komplexe moralische und philosophische Fragen aufwerfen, lässt die Verwaltung eher an ein Mosaik aus verschiedenen Aspekten und Zeiten der Sowjetgesellschaft denken.
In Die hässlichen Schwäne (1972 russisch in der BRD) ist der mäßig regimekritische Schriftsteller Banev in seine provinzielle Heimatstadt zurückgekehrt, wo es seit Jahren pausenlos regnet, was die Einheimischen mit dem Auftauchen der »Nässlinge« in Verbindung bringen − merkwürdiger Menschen, die an einer abstoßenden Erbkrankheit zu leiden scheinen und daher ständige Nässe brauchen. Sie sind vor allem zu ihrem eigenen Schutz in einem Lager interniert (das sie aber verlassen dürfen) und üben einen starken Einfluss auf die Kinder der Stadtbewohner aus. Diese Kinder werden am Ende zu Übermenschen, die Nässlinge verschwinden spurlos. Der Roman bietet eine explizite, aber keineswegs zwingende SF-Erklärung, wonach die Nässlinge Zeitreisende aus einer dystopischen Zukunft sind, die sie durch ihren Eingriff ungeschehen machen. Seine nachdrückliche Wirkung bezieht das Buch jedoch aus der Darstellung der gescheiterten Existenzen, die Banev umgeben, und der spießigen Städter, deren Kinder ihren Eltern von den Nässlingen so weit entfremdet werden, dass sie mit Verachtung auf sie herabschauen − das Thema der vom Fortschritt Zurückgelassenen, das die Strugatzkis des öfteren behandelt haben. Der Roman wurde später nachträglich als Binnenhandlung in Das lahme Schicksal integriert, das bereits zum Spätwerk gehört.
Picknick am Wegesrand (1972) ist der international erfolgreichste Roman der Strugatzkis. Dazu beigetragen hat Stalker, die ziemlich freie Verfilmung des 4. Kapitels durch Andrej Tarkowski, zu der die Strugatzkis auch das Szenarium schrieben − genauer gesagt, an die zehn zum Teil sehr unterschiedliche Szenarien, ehe der Regisseur zufrieden war. Noch maßgebender für den Erfolg dürften jedoch die originell ausgeführte SF-Idee, der facettenreiche Charakter des Helden und die Tatsache sein, dass dieses Werk (wie der Großteil des Zukunftszyklus, aber bei weitem nicht alle übrigen Arbeiten der Strugatzkis) ganz innerhalb der SF-Konvention bleibt. Die Handlung spielt in einer unbestimmten, sehr nahen Zukunft in und bei einer Zone irgendwo in Kanada, wo plötzlich außerirdische Artefakte aufgetaucht sind, deren Zweck und Funktionsweise der irdischen Wissenschaft völlig unerklärlich und die oft tödlich sind, sich aber zu anderen Zwecken − auch kriminellen − nutzen lassen. So ist der Beruf des Stalkers entstanden, der unter höchster Lebensgefahr Artefakte aus der von Sicherheitskräften abgeriegelten Zone holt, um sie an Privatleute zu verkaufen. Der Held des Romans ist ein solcher Schatzsucher, den sein Naturell, aber auch die Umstände immer wieder in die Zone treiben, nicht zuletzt, weil er seine Frau und die − wie viele Stalkerkinder − genetisch geschädigte Tochter versorgen muss. Schließlich opfert er das Leben eines jungen Mannes, um zu der sagenhaften, angeblich Wünsche erfüllenden Goldenen Kugel im Zentrum der Zone vorzudringen, von der er sich die Genesung seiner Tochter erhofft. Als er dann selbst »Glück für alle« wünscht, wird die Aussichtslosigkeit solcher Hoffnungen deutlich.
Stadt der Verdammten (in der korrigierten Übersetzung Das Experiment, im Original eigentlich »Die verurteilte Stadt«), erst 1989 publiziert, entstand Anfang der siebziger Jahre. Nach den politischen Schwierigkeiten, die sich die Strugatzkis damals mit den Verwaltungs-Kapiteln der Schnecke am Hang, dem Märchen von der Troika und insbesondere den nur in Westen gedruckten Hässlichen Schwänen eingehandelt hatten, schrieben sie diesen Roman gleich für die Schublade und hielten sogar seine Existenz geheim, um einerseits einer Beschlagnahme vorzubeugen, andererseits aber auch einer Beschädigung des Werkes durch Kompromisse mit Verlag und Zensur. Der Roman ist vielleicht das beste, jedenfalls das ambitionierteste und komplexeste Werk der Strugatzkis. Er spielt in einer Stadt, die auf einem Sims zwischen einem bodenlosen Abgrund und einer unendlich hohen Felswand liegt, im Norden von ausgetrockneten älteren Vierteln, im Süden von Sümpfen begrenzt; darüber steht unbeweglich eine Sonne, die nachts einfach verlöscht, »ausgeschaltet wird«. Die Bewohner, rund eine Million, sind allesamt von schemenhaften »Mentoren« aus verschiedenen Zeiten und Gegenden unserer Wirklichkeit zur Teilnahme an einem nicht näher erklärten Experiment in jener Kunstwelt angeworben worden. Der Protagonist stammt aus der UdSSR des Jahres 1951; in der komplexen Handlung des umfangreichen Romans durchläuft er eine wechselvolle Karriere, die mit einer wechselnden politischen Verfassung der Stadt und seiner zunehmenden Desillusionierung korrespondiert, bis er auf einer abenteuerlichen Expedition in den Norden, die durch diverse vergessene utopische Enklaven führt, an einer raumzeitlichen Singularität sich selbst begegnet, sich dabei tötet und in unsere Welt zurückversetzt wird. Der Roman lebt von der sehr realistischen, detailreichen Schilderung des Lebens innerhalb des phantastischen Rahmens und von der Parallelführung SF-hafter, rein phantastischer und psychologisch-symbolhafter Deutungsmöglichkeiten; erst in der Auflösung überwiegen die letzteren.
Auch Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang (1976, deutsch in der älteren, leicht gekürzten Fassung auch Milliarden Jahre ...) bietet verschiedene einander widersprechende Deutungsvarianten, zwischen denen die Autoren keine endgültige Entscheidung treffen. Die Handlung spielt um 1973 in Leningrad. Der Astrophysiker Maljanow wird plötzlich durch teils banale, teils ans Absurde grenzende Ereignisse an der nahen Vollendung einer perspektivreichen neuen kosmogonischen Theorie gehindert und findet heraus, dass anderen in seinem Bekanntenkreis, die auf ganz unterschiedlichen Gebieten an ungewöhnlichen Dingen forschen, Ähnliches widerfährt. Die Gegenkraft präsentiert sich bald als irdisch-reale Macht, bald als uralter Geheimbund, bald als Außerirdische; nichts davon erklärt die Gesamtheit der Vorgänge. Anscheinend ist es das Weltgebäude selbst, das sich Entwicklungen widersetzt, die es in fernster Zukunft gefährden könnten. Das Thema des Romans sind indes die unterschiedlichen Reaktionen der Forscher auf jene gesichtslose Übermacht; ein Einziger von ihnen setzt seine Arbeit trotz allem fort.
© 2010 by Erik Simon
[ Strugatzki-Werkführer ]
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