Musäsus | Allgemeine deutsche Bibliothek | Band 6

 

Allgemeine deutsche Bibliothek
[6. Band, 1. Stück (1768)], Seite 50−53

Geschichte der Miß Fanny Wilkes, so gut als
aus dem Engl. übersezt. In zween Bänden.
Lectorem delectando pariterque monendo.
Leipzig bey Joh. Friedrich Junius 1766.
2 Alphabeth.

Anstatt des ganz verbrauchten Motto auf dem
Titel, hätten wir dem V. ein anders vorschla-
gen wollen, dieses nemlich:
   — ex integra graeca integram
   comoediam hodie sum acturus;
das würde zu dieser Nachahmung der englischen Ro-
mane vollkommen passend gewesen seyn. Der Verf.
hat sich nach Richardsonischen und Fieldingischen
Geschmak gebildet, das ist lobenswürdig; aber darinne
thut er der Sache zu viel, daß er ganze persönliche
Charakter aus den englischen Romanen in den seinigen
| überträgt. Wer eine Parallele zwischen der Geschichte
des Grandisons und dieser ziehen wollte, der würde
die Personen leichtlich aus beyden zusammen paaren
können. Die Hauptperson in der Geschichte ist ein
Grandison, der aber hier Handsom heißt, seine
Henriette heißt Jenny, des Handsoms Schwester,
Elisabeth ist Charlotte u.s.w. Der Verf. führt
zwar seinen Helden durch elne andere Reihe von Bege-
benheiten hindurch, aber die Charakter sind doch in
beyden vollkommen einerley. Das ist eine Ketzerey
wenn man die jeute so umtauft. Die äusserliche Ein-
richtung ist vollkommen nach Fieldingischer Art; so
sind die Kapitel überschrieben und so sind auch die Aus-
schweifungen die zu Anfang jedes Kapitels zur Einlei-
tung dienen, sie lassen sich meistens wohl lesen, nur eini-
ge sind etwas langweilig. Die Geschichte hat einen
Hang zum tragischen, an manchen Orten hat der Verf.
mit Empfindung geschrieben, die komischen Auftritte
nehmen sich nicht so wohl aus, sie sind alle sehr matt.
Die Verwickelung ist zu sehr gekünstelt und gehet bis
zur Verwirrung: der V. ist zu sparsam mit den Per-
sonen, einige führen zwey bis drey Namen, dadurch
wird er bey seinen Leserinnen, mit denen er sich in dem
Buche so oft freundschaftlich bespricht, nicht viel Dank
verdienen. — Das Frauenzimmer ließt gemeiniglich
flüchtig und nicht gern mit vielen Nachdenken. Nichts
ist unerwarteter als die Entwickelung, aber sie hat ein
gar zu seltsames Ansehen. Der Leser vermuthet eine
Hochzeit, die Braut ist schon angepuzt vor den Trau-
altar geführt zu werden. Auf einmal bekommt die
Sache ein anderes Ansehen und das ganze Gebäude,
| das der V. mühsam aufgeführet hat, zerfällt gleich-
sam durch einen einzigen Stoß, wie ein Haus von
Karten. Die Fanny Wilkes, ein kleines Mädchen,
von der das Buch überschrieben ist, hat nur eine Ne-
benrolle; der V. hat seine Leser dadurch täuschen wol-
len. So würde Richardson, wenn er gleiche Ab-
sicht gehabt hätte, die Geschichte des Grandisons
etwan die Geschichte des weinenden Herrn Orme
benennt haben. Wenn inzwischen der Leser durch
einen Theil des Titels hintergangen wird, so gilt das
nicht von dem andern. Das Buch unterscheidet sich
von den gemeinen Romanen, auf eine vorlheilhafte
Art und verräth einen Verf. der nicht ohne Talente
ist. Nur scheint er noch jung zu seyn, und die Welt
und das menschliche Herz nicht gnug zu kennen. Unter
andern hat er auch die Grille zu glauben, er könne gut
Französisch schreiben, daher rükt er ganze Seiten in
französischer Sprache ein, die ein Franzose steif finden
wird, und ein Deutscher in einem deutschen Buche
nicht suchen kann. Inzwischen verdient der Verf. alle
Aufmunterung, wenn er mehrere Erfahrung wird er-
langet haben, so kann er einmal ein guter Romanen-
schreiber werden. Unterdessen wird auch seine Schreib-
art etwas fester werden, bis izt witzelt er noch öfters
wenn er scherzhaft seyn will. Zum empfindungsvollen
und traurigen scheint er mehrere Talente zu haben, auch
hier wird ihm mehrere Erfahrung lehren, daß die
wahre Rührung bloß durch tragische Situationen in
denen die Personen ihrem Charakter gemäß handeln,
erreichet werde. Diese zu erfinden, zeugt vom Genie
| eines Schriftstellers, lange Reden und viel Weinen
und Schluchzen zu erzählen, kostet nicht viel Kunst.
Da man in Deutschland nöthig hat, jeden auch
schwachen Funken des Genies anzublasen, so wünschen
wir, daß der Verf. durch obige Erinnerungen sich
nicht abschrecken lasse, seine Kräfte in einem Felde
noch ferner zu versuchen, welches zu bearbeiten, er
nicht ganz ungeschikt zu seyn scheint.

A.

[Anm.: Autor der Geschichte der Miß Fanny Wilkes
ist Johann Timotheus Hermes (1738−1821)]

 


 

Allgemeine deutsche Bibliothek
[6. Band, 2. Stück (1768)], Seite 262

Das menschliche Schiksal oder die Geschichte des
Ritters von Dampierre aus dem Französischen.
Kopenhagen und Leipzig, bey Rothens Witwe
und Prost, 1767. 2 Theile, ungefähr 20 B.

Der V. häuft, wie er sagt, alle Unglüksfalle zu-
sammen, die einem Menschen begegnen können,
und läßt sie seinen Helden treffen, um ein rührendes
Gemählde zu entwerfen. Das ist mit seiner Erlaub-
niß gar nicht die Anlage zu einem rührenden Gemähl-
de: weder die Menge der Unglücksfälle, noch der Aus-
rufungen, auch keine abgebrochnen Redensarten und
Bnchdruckerlatten, denn alles dieses findet man hier,
sind hierzu nochwendig oder gar hinreichend. Das
Rührende muß aus der Zeichnung der Charaktere und
deren Situation, hauptsächlich aus dem Interessanten,
für dem Leser entspringen; sonst bleibt er bey der er-
bärmlichsten Mordgeschichte kalt. Das Schiksal der
Clarisse rührt ohne alle die hier angewandten Hülfs-
mittel ungleich mehr, als die Unglüksfälle des Ritters
Dampierre mit einander. Wenn aber diese Geschichte
gleich nicht so rührend ist, wie sie der V. haben will,
so ist sie doch so ziemlich unterhaltend. Er läßt seinen
Helden in dem spanischen Succeßionskrieg und in den
persischen Empörungen bey verschiedenen wichtigen
Auftritten Antheil nehmen, dadurch erhalt die Ge-
schichte das Ansehen einer Anecdote welches ihr nicht
nachtheilig ist.

A.

[Anm.: Autor von Das menschliche Schiksal
oder die Geschichte des Ritters von Dampierre

ist André Guillaume Contant d'Orville
(1730[?]−1800[?])]

 


Textredaktion: Hannes Riffel

 

 

 



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