Musäsus | Allgemeine deutsche Bibliothek | Band 9

 

Allgemeine deutsche Bibliothek
[9. Band, 2. Stück (1769)], Seite 262−264

Die neue Clarisse eine wahrhafte Geschichte aus
dem französischen der Frau Marie le Prince
de Beaumont. 2 Theile Leipzig bey Weid-
manns Erben zusammen 37 Bogen.

Die ältere Clarisse bekommt hier eine Schwester,
gegen die sie eben nicht Ursache hat eifersüchtig
zu seyn. Die V. kennt die Grazie des Richardson
nicht, der über seine Charaktere eine so sanfte Farben-
mischung, auszustreuen wußte, daß das Hassenswer-
the nie widerwärtig, und das liebenswürdige fo rei-
tzend wurde, daß der Leser aus Leidenschaft sich für
sie intereßirte. Hier ist alles dieses nicht. Was die
Heldin der Geschichte auf einer Seite an der Zunei-
gung der Leser gewinnt, das verliehrt sie auf der an-
dern wieder: sie erscheint immer in einem falschen
Lichte, der allzuweit gedehnte Gehorsam gegen einen
abscheulichen Vater, dessen Charakter ohne Noth allzu
| übertrieben ist; die Gleichgültigkeit gegen die große
Erbschaft von ihrer Tante, die sie sich von diesem Va-
ter durch eine schlecht ausgedehnte Intrique rauben
läßt, sind mehr Einfalt als Tugend, und der unüber-
legte Schritt ihrer Heyrath mit einem jungen Franzo-
sen, einem Perückenmächer seines Handwerks, den sie
bey der Flucht aus ihrem Hauße auf der StraIe auf-
hascht, sezt die reiche Erbin von drey Milionen zu sehr
in den Augen der Leser herab. Anstatt Mitleiden rege
zu machen, reizt dieser Zug zum lachen. Wo muß die
V. den Geundsaz herhaben, den sie mit ernsthafter
Mine predigt, daß ein Mädchen, die genöthiget wird
aus dem Hauße ihrer Elrern zu flüchten, nicht anders
als mit einem Manne fliehen soll, wenn dieser Mann
auch ein Laquey ist? Will sie einen solchen zweydeuti-
gen Schritt für die Ehre eines Frauenzimmers da
durch Heiligen, weil sie die Ehe für ein Sacrament
hält? Der zweyte Theil bestehet aus einem weitläuf-
tigen oeconomischen Gemählde, das zu einer so inte-
ressanten Geschichte, wie diese seyn soll, nicht passet.
Viele Leser werden darüber gähnen oder es überschla-
gen, so modisch es auch ist. Die V. läßt ihre Hel-
din mit dem wenigen Ueberbleiseln ihres Vermögens
und dem Perückenmacher, den sie um das unschikliche
dieser Heyrath einigermaßen zu tilgen baronisirt hat,
nach Frankreich übergehen. Hier wird sie eine Bäue-
rin, widmet ihre schöne Kleiden den Altären, von den
schlechtern, ingleichen von ihren Bändern und Spi-
tzen errichtet sie einen wohlthätigen Trödel, und macht
durch diese kleinen Geschenke ihre Nachbarn arbeit-
sam und tugendhaft. Ein gewisser Enthusiasmus
der V. gegen die Grundsätze ihrer Kirche wäre ihr
allenfalls zu verzeyhen, wenn ihr Buch übrigens einer
Clarisse Harlowe könnte an die Seite gesezt werden.
Aber die große Partheylichkeit gegen ihre Nation,
| ist ganz unerträglich. Frankreich ist bey ihr alles, wie
es auch von einer Französin, die zu leben weis, nicht
anders zu erwarten ist.

Wl.

[Anm.: Bei der Autorin handelt es sich um Jeanne Marie Leprince de Beaumont (1711-1780), das Buch ist im Original 1767 unter dem Titel La Nouvelle Clarice, histoire véritable erschienen.]

 


Textredaktion: Hannes Riffel

 

 

 



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